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Charlotte Schubert,
Historisches Seminar, Universität Leipzig
H-Soz-u-Kult — Kommunikation und Fachinformation für
die Geschichtswissenschaften:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-138
Askold I. Ivantchik, Am Vorabend der
Kolonisation. Das nördliche Schwarzmeergebiet und die Steppennomaden
des 8.–7. Jhs. v. Chr. in der klassischen Literaturtradition:
Mündliche Überlieferung, Literatur und Geschichte. Pontus Septentrionalis
III. Moskau:
Paleograph Press, 2005.
Dieses als Band III der Reihe Pontus Septentrionalis
des DAI / Eurasien-Abteilung, des Instituts für Archäologie
und des Instituts für Allgemeinen Geschichte der Russischen
Akademie der Wissenschaften sowie des Zentrums für Vergleichende
Erforschung der Alten Zivilisationen erschienene Werk
ist der erste Teil der überarbeiteten Habilitationsschrift,
mit der der Verfasser sich 1996 an der Universität Freiburg
/ Schweiz habilitiert hat. Die Arbeit ergänzt und erweitert
in gewisser Weise die im Jahr 2001 erschienene Studie
„Kimmerier und Skythen“ [1], in der Ivantchik die Kimmerier
als eine von den Skythen zwar nicht archäologisch zu
differenzierende, aber sehr wohl territorial und literarisch
durch die keilschriftliche Überlieferung zu unterscheidende
Nomadengruppe beschreibt.
Die Invasion eurasischer Nomaden im 8./7. Jahrhundert
v.Chr. in Lydien und Ionien hat erhebliche Spuren in
der Überlieferung hinterlassen. In dem hier vorliegenden
Buch wendet Ivantchik sich der Entstehung des Bildes
über die Steppennomaden zu, das sich vor allem die Griechen
nach dem Abzug der Nomaden aus Kleinasien und im Laufe
der in dieser Zeit langsam beginnenden Kolonisation
an der nördlichen Schwarzmeerküste gemacht haben. Hierbei
gilt seine besondere Aufmerksamkeit der frühen Phase,
deren Traditionen sich von der klassischen bis in die
byzantinische Zeit gehalten haben. Für diese, von ihm
als vorkolonial bezeichnete Phase setzt er als chronologische
Eckpunkte die Entstehungszeiten der homerischen Epen
sowie die Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert v.Chr. Im
ersten Teil der Arbeit will er die Vorstellungen rekonstruieren,
die die Zeitgenossen Homers von den Steppennomaden hatten,
wobei er hierzu auch die mythologischen Traditionen
heranzieht, die aus einzelnen nordpontischen Kolonien
(Heraklea und Sinope) bekannt sind. Im zweiten Teil
untersucht Ivantchik die literarischen Zeugnisse der
Kontakte zwischen Griechen und skythischen Nomaden ab
dem 7. Jahrhundert v.Chr.
Für beide Teile dieser in jedem Sinn umfassenden Untersuchung
legt der Autor klar formulierte Thesen zugrunde, die
er sorgfältig und außerordentlich detailreich belegt.
Im ersten Teil stellt er die These auf, dass erst mit
Ephorus eine Idealisierung der Skythen eingesetzt habe
(S. 33). Die Ephorus-Version ist bei Strabon (7,3,9)
erhalten, wobei Ivantchik hier dem Kontext des Strabonschen
Werks etwas zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, denn sowohl
Strabon als auch Ephorus – wenn Strabon ihn richtig
zitiert – haben eine deutlich moral-pädagogische Absicht,
die die Darstellung ganz offensichtlich prägt. Ivantchik
geht es vor allem darum zu zeigen, dass die frühere
Überlieferung zu den Skythen diese gerade nicht als
die gerechtesten oder auch anderweitig vorbildlichen
Menschen dargestellt habe. Ausführlich widmet er sich
dazu der bekannten Stelle in Homers Illias (13,3–6),
in der es um Thraker und Mysier, Hippomolgen („Stutenmelker“)
und Galaktophagen („Milchesser“) sowie um ABIOI geht,
wobei er ABIOI nicht als Epitheton (a-bioi), sondern
als Ethnonym interpretiert (S. 19ff.). Somit sind die
bei Homer genannten Nomaden nicht als ‚reich‘ und als
die gerechtesten beschrieben, es wird hier vielmehr
ein weiteres Volk der Aufzählung hinzugefügt, von dem
allerdings sonst nichts bekannt ist. Dieser Vers der
Ilias hat schon in der Antike für reichlich Diskussionsstoff
gesorgt, wie nicht nur die Kommentare bei Strabon, sondern
auch die von Ivantchik ausführlich dargelegten Bemerkungen
der alexandrinischen Philologen zeigen.
Genauso umstritten ist in der Antike die Erwähnung der
Kimmerier in der Odyssee (11,14) als demos mit polis
gewesen, die oft als Interpolation abgetan wurde. Ivantchik
weist jedoch überzeugend nach, dass Ilias und Odyssee
sich offensichtlich auf zwei verschiedene Nomadenvölker
beziehen: die Ilias auf die westliche Gruppe der Träger
der frühskythischen archäologischen Kultur und die Odyssee
auf die realen, historischen Kimmerier (S. 66), von
denen aber offenbar so wenig bekannt war, dass sie wie
ein griechisches Volk mit demos und polis gedacht wurden.
Zu dieser These des ersten Teils gehört dann ganz folgerichtig
auch Ivantchiks Überlegung, dass die Griechen im Rahmen
ihrer verschiedenen Kontaktzonen auch ihr Weltbild entsprechend
um- und neudefinierten: Galt lange Zeit das Schwarze
Meer als Teil des Okeanos, so haben sich die Griechen
wohl im letzten Viertel des 7. Jahrhunderts v.Chr. von
dieser Vorstellung getrennt; im Laufe des ersten Viertels
des 6. Jahrhunderts v.Chr. entstanden dann die ersten
Kolonien im nördlichen Teil des Schwarzen Meeres. Solange
sie jedoch das Schwarze Meer als Teil des Okeanos betrachteten,
konnten sie die Kimmerier, die im äußersten Osten angesiedelt
wurden, und die Hippomolgen bzw. Galaktophagen im äußersten
Norden natürlich nicht miteinander identifizieren oder
einem einheitlichen Nomadenbild zuordnen (S. 108f.).
Damit hat Ivantchik sehr elegant seine Argumentation
geschlossen und kann sich im zweiten Teil den Problemen
der skythischen Herrschaft in Asien zuwenden, die er
in den Zeitraum von 626 bis 616 v.Chr. setzt. Die beiden
Pole, zwischen denen sich die chronologischen Abwägungen
hin und her bewegen, sind vor allem Herodot 1,103–106
mit seiner Beschreibung, wie den Kimmeriern die Skythen
unter Madyas folgen und eine 28jährige Herrschaft in
Asien begründen, sowie Strabon 1,3,21 mit der Erwähnung
des Kimmerierkönigs Lygdamis, der sehr wahrscheinlich
sowohl mit einer Person in assyrischen Keilschrifttexten
als auch einem – allerdings nicht datierten – Lygdamis
identisch ist, der in einer hellenistischen Inschrift
zu einem Landstreit zwischen Samos und Priene genannt
wird und der in alter Zeit nach Ionien eingefallen sei.[2]
Herodot lässt sich hier keinesfalls mit den anderen
Versionen in Übereinstimmung bringen.[3] Das Problem
der ‚tiefen Chronologie‘ der archaischen Zeit und Herodots
Versuche, seine spärlichen Kenntnisse fixer Daten vor
480 v.Chr. mit seinem Wissen über verschiedene Königs-
bzw. Dynastielisten in eine synchrone Struktur zu bringen,
ist bekannt und bereits vielfach thematisiert worden.[4]
Ivantchik schlägt zur Lösung dieses – eigentlich nicht
lösbaren – Problems einen sehr interessanten Weg ein:
„Der größte Teil der klassischen Tradition, die die
ältesten Kontakte zwischen den Griechen und den eurasischen
Nomaden betrifft, wurde also mindestens die ersten hundert
Jahre ihrer Entwicklung in mündlicher Form überliefert“
(S. 110). Als Ausdrucksweise dieser mündlichen Form
sieht er vor allem die skythische Folklore an, die ihren
Weg über epische und mythische Elemente in die griechische
Literatur gefunden habe. So erklärt er zum Beispiel
das Auftreten von Sujets wie den tapferen Kriegern als
wütende Hunde (S. 169 ff.), der Amazonen (S. 225) und
auch der Enarer, also der schamanistischen Priester
(S. 227), in griechischen Texten. Die Überlieferung
eines ägyptisch-skythischen Kriegs, der in die Legenden
über den ägyptischen König Sesostris eingebunden wurde,
führt Ivantchik auf eine rein literarische Fiktion ohne
jede historische Grundlage zurück.
Einige der hier behandelten antiken Autoren hätten vielleicht
noch etwas kritischer betrachtet werden können. Immerhin
sind auch die antiken Autoren begnadete Konstrukteure
gewesen, die zwar sicher mündliche und andere Überlieferungen
zu den Skythen gesammelt haben, sie aber – am Beispiel
der Enarer in der medizinischen Schrift De aeribus und
ihrem nicht immer so wissenschaftlich-rationalen Ansatz
ist dies gut zu zeigen [5] – in der Regel sehr stark
und entsprechend ihren eigenen Konzepten umgeformt haben.
So ist das Amazonenmotiv im Kontext des Skythenexkurses
dieses medizinischen Autors auch verbunden mit einem
Konzept des Transvestismus, das sehr viel mehr mit griechischen
Riten und Kulturvorstellungen als mit skythischen Traditionen
zusammenhängt.
Insgesamt ist das hier vorliegende Werk sehr sorgfältig,
umfassend und originell geschrieben. Die verschiedenen
Passagen zu Herodot bedeuten zudem einen Fortschritt
in der schwierigen Frage, wie das Verhältnis zwischen
Wirklichkeit und Text zu verstehen ist.[6] Ivantchiks
Buch stellt eine beeindruckende Studie dar, die für
die weitere Beschäftigung mit den Skythen neue Maßstäbe
setzt.
Anmerkungen:
[1] Ivantchik, Askold I., Kimmerier und Skythen. Kulturhistorische
und chronologische Probleme der Archäologie der osteuropäischen
Steppen und Kaukasiens in vor- und frühskythischer Zeit
(Steppenvölker Eurasiens 2), Moskau 2001.
[2] IG XII 6.1 (2000), 43–46, Nr. 42–43.
[3] Vgl. dazu ausführlich die von Ivantchik leider nicht
herangezogenen Überlegungen bei Bichler, Reinhold, Herodots
Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder
und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte,
Berlin 2000, S. 229ff.
[4] Vgl. dazu Bichler (wie Anm. 3); Fehling, Detlev,
Die Quellenangaben bei Herodot, Berlin u.a. 1971; vor
allem aber ders., Die sieben Weisen und die frühgriechische
Chronologie, Bern u.a. 1985.
[5] Vgl. dazu Schubert, Charlotte, Anthropologie und
Norm: Der Skythenabschnitt in der hippokratischen Schrift
‚Über die Umwelt‘, in: Medizinhistorisches Journal 25
(1990), S. 90–103.
[6] Vgl. grundsätzlich zu dieser Thematik Weiß, Alexander
(Hrsg.), Topoi und Wirklichkeit. Beiträge zum Realitätsbezug
antiker, mittelalterlicher und arabischer Nomaden-Texte
(im Druck); vgl. dazu jetzt auch Ivantchik, Askold,
Zum Totenritual skythischer „Könige“: Herodot und der
archäologische Befund, in: Im Zeichen des goldenen Greifen.
Königsgräber der Skythen, Ausstellungskatalog, München
u.a. 2007, S. 238ff.; in ausführlicherer Form vorgetragen
auf dem Skythen-Kongreß, Berlin, 6. Juli 2007: „Zur
Bestattung skythischer Könige: Herodot und die Archäologie“.
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