Charlotte Schubert, Historisches Seminar, Universität Leipzig

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Askold I. Ivantchik, Am Vorabend der Kolonisation. Das nördliche Schwarzmeergebiet und die Steppennomaden des 8.–7. Jhs. v. Chr. in der klassischen Literaturtradition: Mündliche Überlieferung, Literatur und Geschichte. Pontus Septentrionalis III. Moskau: Paleograph Press, 2005.

 

Dieses als Band III der Reihe Pontus Septentrionalis des DAI / Eurasien-Abteilung, des Instituts für Archäologie und des Instituts für Allgemeinen Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften sowie des Zentrums für Vergleichende Erforschung der Alten Zivilisationen erschienene Werk ist der erste Teil der überarbeiteten Habilitationsschrift, mit der der Verfasser sich 1996 an der Universität Freiburg / Schweiz habilitiert hat. Die Arbeit ergänzt und erweitert in gewisser Weise die im Jahr 2001 erschienene Studie „Kimmerier und Skythen“ [1], in der Ivantchik die Kimmerier als eine von den Skythen zwar nicht archäologisch zu differenzierende, aber sehr wohl territorial und literarisch durch die keilschriftliche Überlieferung zu unterscheidende Nomadengruppe beschreibt.

Die Invasion eurasischer Nomaden im 8./7. Jahrhundert v.Chr. in Lydien und Ionien hat erhebliche Spuren in der Überlieferung hinterlassen. In dem hier vorliegenden Buch wendet Ivantchik sich der Entstehung des Bildes über die Steppennomaden zu, das sich vor allem die Griechen nach dem Abzug der Nomaden aus Kleinasien und im Laufe der in dieser Zeit langsam beginnenden Kolonisation an der nördlichen Schwarzmeerküste gemacht haben. Hierbei gilt seine besondere Aufmerksamkeit der frühen Phase, deren Traditionen sich von der klassischen bis in die byzantinische Zeit gehalten haben. Für diese, von ihm als vorkolonial bezeichnete Phase setzt er als chronologische Eckpunkte die Entstehungszeiten der homerischen Epen sowie die Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert v.Chr. Im ersten Teil der Arbeit will er die Vorstellungen rekonstruieren, die die Zeitgenossen Homers von den Steppennomaden hatten, wobei er hierzu auch die mythologischen Traditionen heranzieht, die aus einzelnen nordpontischen Kolonien (Heraklea und Sinope) bekannt sind. Im zweiten Teil untersucht Ivantchik die literarischen Zeugnisse der Kontakte zwischen Griechen und skythischen Nomaden ab dem 7. Jahrhundert v.Chr.

Für beide Teile dieser in jedem Sinn umfassenden Untersuchung legt der Autor klar formulierte Thesen zugrunde, die er sorgfältig und außerordentlich detailreich belegt. Im ersten Teil stellt er die These auf, dass erst mit Ephorus eine Idealisierung der Skythen eingesetzt habe (S. 33). Die Ephorus-Version ist bei Strabon (7,3,9) erhalten, wobei Ivantchik hier dem Kontext des Strabonschen Werks etwas zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, denn sowohl Strabon als auch Ephorus – wenn Strabon ihn richtig zitiert – haben eine deutlich moral-pädagogische Absicht, die die Darstellung ganz offensichtlich prägt. Ivantchik geht es vor allem darum zu zeigen, dass die frühere Überlieferung zu den Skythen diese gerade nicht als die gerechtesten oder auch anderweitig vorbildlichen Menschen dargestellt habe. Ausführlich widmet er sich dazu der bekannten Stelle in Homers Illias (13,3–6), in der es um Thraker und Mysier, Hippomolgen („Stutenmelker“) und Galaktophagen („Milchesser“) sowie um ABIOI geht, wobei er ABIOI nicht als Epitheton (a-bioi), sondern als Ethnonym interpretiert (S. 19ff.). Somit sind die bei Homer genannten Nomaden nicht als ‚reich‘ und als die gerechtesten beschrieben, es wird hier vielmehr ein weiteres Volk der Aufzählung hinzugefügt, von dem allerdings sonst nichts bekannt ist. Dieser Vers der Ilias hat schon in der Antike für reichlich Diskussionsstoff gesorgt, wie nicht nur die Kommentare bei Strabon, sondern auch die von Ivantchik ausführlich dargelegten Bemerkungen der alexandrinischen Philologen zeigen.

Genauso umstritten ist in der Antike die Erwähnung der Kimmerier in der Odyssee (11,14) als demos mit polis gewesen, die oft als Interpolation abgetan wurde. Ivantchik weist jedoch überzeugend nach, dass Ilias und Odyssee sich offensichtlich auf zwei verschiedene Nomadenvölker beziehen: die Ilias auf die westliche Gruppe der Träger der frühskythischen archäologischen Kultur und die Odyssee auf die realen, historischen Kimmerier (S. 66), von denen aber offenbar so wenig bekannt war, dass sie wie ein griechisches Volk mit demos und polis gedacht wurden. Zu dieser These des ersten Teils gehört dann ganz folgerichtig auch Ivantchiks Überlegung, dass die Griechen im Rahmen ihrer verschiedenen Kontaktzonen auch ihr Weltbild entsprechend um- und neudefinierten: Galt lange Zeit das Schwarze Meer als Teil des Okeanos, so haben sich die Griechen wohl im letzten Viertel des 7. Jahrhunderts v.Chr. von dieser Vorstellung getrennt; im Laufe des ersten Viertels des 6. Jahrhunderts v.Chr. entstanden dann die ersten Kolonien im nördlichen Teil des Schwarzen Meeres. Solange sie jedoch das Schwarze Meer als Teil des Okeanos betrachteten, konnten sie die Kimmerier, die im äußersten Osten angesiedelt wurden, und die Hippomolgen bzw. Galaktophagen im äußersten Norden natürlich nicht miteinander identifizieren oder einem einheitlichen Nomadenbild zuordnen (S. 108f.).

Damit hat Ivantchik sehr elegant seine Argumentation geschlossen und kann sich im zweiten Teil den Problemen der skythischen Herrschaft in Asien zuwenden, die er in den Zeitraum von 626 bis 616 v.Chr. setzt. Die beiden Pole, zwischen denen sich die chronologischen Abwägungen hin und her bewegen, sind vor allem Herodot 1,103–106 mit seiner Beschreibung, wie den Kimmeriern die Skythen unter Madyas folgen und eine 28jährige Herrschaft in Asien begründen, sowie Strabon 1,3,21 mit der Erwähnung des Kimmerierkönigs Lygdamis, der sehr wahrscheinlich sowohl mit einer Person in assyrischen Keilschrifttexten als auch einem – allerdings nicht datierten – Lygdamis identisch ist, der in einer hellenistischen Inschrift zu einem Landstreit zwischen Samos und Priene genannt wird und der in alter Zeit nach Ionien eingefallen sei.[2] Herodot lässt sich hier keinesfalls mit den anderen Versionen in Übereinstimmung bringen.[3] Das Problem der ‚tiefen Chronologie‘ der archaischen Zeit und Herodots Versuche, seine spärlichen Kenntnisse fixer Daten vor 480 v.Chr. mit seinem Wissen über verschiedene Königs- bzw. Dynastielisten in eine synchrone Struktur zu bringen, ist bekannt und bereits vielfach thematisiert worden.[4] Ivantchik schlägt zur Lösung dieses – eigentlich nicht lösbaren – Problems einen sehr interessanten Weg ein: „Der größte Teil der klassischen Tradition, die die ältesten Kontakte zwischen den Griechen und den eurasischen Nomaden betrifft, wurde also mindestens die ersten hundert Jahre ihrer Entwicklung in mündlicher Form überliefert“ (S. 110). Als Ausdrucksweise dieser mündlichen Form sieht er vor allem die skythische Folklore an, die ihren Weg über epische und mythische Elemente in die griechische Literatur gefunden habe. So erklärt er zum Beispiel das Auftreten von Sujets wie den tapferen Kriegern als wütende Hunde (S. 169 ff.), der Amazonen (S. 225) und auch der Enarer, also der schamanistischen Priester (S. 227), in griechischen Texten. Die Überlieferung eines ägyptisch-skythischen Kriegs, der in die Legenden über den ägyptischen König Sesostris eingebunden wurde, führt Ivantchik auf eine rein literarische Fiktion ohne jede historische Grundlage zurück.

Einige der hier behandelten antiken Autoren hätten vielleicht noch etwas kritischer betrachtet werden können. Immerhin sind auch die antiken Autoren begnadete Konstrukteure gewesen, die zwar sicher mündliche und andere Überlieferungen zu den Skythen gesammelt haben, sie aber – am Beispiel der Enarer in der medizinischen Schrift De aeribus und ihrem nicht immer so wissenschaftlich-rationalen Ansatz ist dies gut zu zeigen [5] – in der Regel sehr stark und entsprechend ihren eigenen Konzepten umgeformt haben. So ist das Amazonenmotiv im Kontext des Skythenexkurses dieses medizinischen Autors auch verbunden mit einem Konzept des Transvestismus, das sehr viel mehr mit griechischen Riten und Kulturvorstellungen als mit skythischen Traditionen zusammenhängt.

Insgesamt ist das hier vorliegende Werk sehr sorgfältig, umfassend und originell geschrieben. Die verschiedenen Passagen zu Herodot bedeuten zudem einen Fortschritt in der schwierigen Frage, wie das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Text zu verstehen ist.[6] Ivantchiks Buch stellt eine beeindruckende Studie dar, die für die weitere Beschäftigung mit den Skythen neue Maßstäbe setzt.


Anmerkungen:

[1] Ivantchik, Askold I., Kimmerier und Skythen. Kulturhistorische und chronologische Probleme der Archäologie der osteuropäischen Steppen und Kaukasiens in vor- und frühskythischer Zeit (Steppenvölker Eurasiens 2), Moskau 2001.

[2] IG XII 6.1 (2000), 43–46, Nr. 42–43.

[3] Vgl. dazu ausführlich die von Ivantchik leider nicht herangezogenen Überlegungen bei Bichler, Reinhold, Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte, Berlin 2000, S. 229ff.

[4] Vgl. dazu Bichler (wie Anm. 3); Fehling, Detlev, Die Quellenangaben bei Herodot, Berlin u.a. 1971; vor allem aber ders., Die sieben Weisen und die frühgriechische Chronologie, Bern u.a. 1985.

[5] Vgl. dazu Schubert, Charlotte, Anthropologie und Norm: Der Skythenabschnitt in der hippokratischen Schrift ‚Über die Umwelt‘, in: Medizinhistorisches Journal 25 (1990), S. 90–103.

[6] Vgl. grundsätzlich zu dieser Thematik Weiß, Alexander (Hrsg.), Topoi und Wirklichkeit. Beiträge zum Realitätsbezug antiker, mittelalterlicher und arabischer Nomaden-Texte (im Druck); vgl. dazu jetzt auch Ivantchik, Askold, Zum Totenritual skythischer „Könige“: Herodot und der archäologische Befund, in: Im Zeichen des goldenen Greifen. Königsgräber der Skythen, Ausstellungskatalog, München u.a. 2007, S. 238ff.; in ausführlicherer Form vorgetragen auf dem Skythen-Kongreß, Berlin, 6. Juli 2007: „Zur Bestattung skythischer Könige: Herodot und die Archäologie“.





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